Konzertjahr 2015

Im "Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen" gibt der Hausvater den Rat: "Lasst beides [Unkraut und Weizen] miteinander wachsen bis zur Ernte; und um die Erntezeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, damit man es verbrenne; aber den Weizen sammelt mir in meine Scheune." (Matthäus 13, 30) Das Motiv des verbrannten Unkrauts erinnert an eine Prophetie Maleachis, welche die erschreckende Zukunft gottfeindlicher Kräfte in einer grell leuchtenden Feuer-Metaphorik ausmalt: "Denn siehe, es kommt ein Tag, der brennen soll wie ein Ofen. Da werden alle Verächter und Gottlosen Stroh sein, und der kommende Tag wird sie anzünden, spricht der Herr Zebaoth, und er wird ihnen weder Wurzel noch Zweig lassen." (Maleachi 3, 19) Im größten nur denkbaren Gegensatz dazu wird laut Maleachi denen, " die [... Gottes] Namen fürchte[n], [...] die Sonne der Gerechtigkeit [aufgehen] und Heil unter ihren Flügeln" (Maleachi 3, 20), ja sie werden, wie es Jesus selbst in der Deutung seines Unkraut-Gleichnisses verheißt, ihrerseits "leuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich. Wer Ohren hat, der höre!" (Matthäus 13, 43)

In einer Zeit, in der Atheismus, Relativismus (vor allem gegenüber der Gottessohnesschaft Jesu Christi) und Materialismus schier überhandnehmen, gewinnt das Gleichnis vom Unkraut eine besondere Aktualität: Als aktiver Christ gehört man in Deutschland de facto einer Minderheit an. (Nur rund 5% der Bevölkerung besucht sonntags einen christlichen Gottesdienst.) Man fühlt sich zuweilen wie ein winziges Weizenkorn, das vom "Unkraut der Gottentfremdung" förmlich überwuchert wird. Trotz eines im 21. Jahrhundert historisch und soziologisch völlig gewandelten Umfelds möchte man daher wie Luther im 16. Jahrhundert bekennen: "Mit unsrer Macht ist nichts getan, / Wir sind gar bald verloren." (Evangelisches Gesangbuch Nr. 362; Gesangbuch der Neuapostolischen Kirche Nr. 142) In dieses Erkennen der eigenen Nichtigkeit leuchtet das Unkraut-Gleichnis aussagekräftig hinein. Gott hat als der "Hausvater" das "Weizen f e l d der Kirche Christi" fest im Blick und lässt das Wachstum des Bösen nur temporär zu. Unvermindert gelten die Worte Luthers: "Es streit't für uns der rechte Mann, / Den Gott hat selbst erkoren. / Fragst du, wer der ist? / Er heißt Jesus Christ, / Der Herr Zebaoth, / Und ist kein andrer Gott, / Das Feld muss er behalten." (a. a. O.)

Ein feste Burg ist unser Gott

Im Sinne von Luthers Choraltitel "Ein feste Burg ist unser Gott" möchte das Konzertprogramm 2015 das Vertrauen auf Gott und den Mut zum Christsein stärken. Das Finale von Felix Mendelssohns "Reformationssymphonie" in d-moll (op. 107) leistet dazu einen mitreißenden Beitrag.

Der 4. Satz der Reformationssymphonie Mendelssohns

Ursprünglich stand die Symphonie in einem Zusammenhang mit dem 25. Juni 1830; König Friedrich Wilhelm III. von Preußen plante in Berlin umfangreiche Feierlichkeiten zum 300jährigen Bestehen von Philipp Melanchtons Augsburgischem Bekenntnis und verband damit die Hoffnung, die Vereinigung von Lutheranern und Calvinisten zu unterstützen. Unter anderem aus gesundheitlichen Gründen konnte Mendelssohn die Arbeiten an der Symphonie jedoch nicht bis zum 25. Juni 1830 abschließen, was allerdings keine weiteren Folgen hatte, da es sich nicht um eine Auftragskomposition, sondern um eine private Idee des Komponisten handelte. In Paris wurde die zwischenzeitlich vollendete Symphonie ein Jahr später im Gegensatz zu Mendelssohns "Sommernachtstraum"-Ouvertüre bereits nach einer einzigen Probe beiseitegelegt, weil die Musiker laut Ferdinand Hillers Bericht zu dem Urteil "zu scholastisch, [...] zu viele [...] Fugatos, zu wenig Melodie" kamen (zit. n. S. VIII der Bärenreiter-Partitur). Als es am 15. November 1832 in Berlin endlich zu der von Mendelssohn sehnlichst herbeigewünschten Uraufführung kam, vermisste der einflussreiche Kritiker Ludwig Rellstab "melodische Erfindung und ein klares Hervortreten und Gliedern der Theile" (ebenda, S. VIII). Eine weitere Aufführung der Symphonie war Mendelssohn zeit seines Lebens nicht mehr vergönnt, und die in seinen Briefen wiederholt spürbaren Selbstzweifel belegen deutlich, dass die vernichtende Rezeption der Symphonie ihre Spuren hinterlassen hat und dass das weit verbreitete Klischee des vom Erfolg und Glück verwöhnten "Wunderknaben [und -mannes] Felix" (nomen est omen) zumindest einer Differenzierung bedarf.

Die Mendelssohn frustrierende Rezeption ist umso bedauerlicher insofern, als die Kritik Rellstabs durchaus anfechtbar ist. Wer etwa vom Finale einer vier Jahre nach Beethovens Tod vollendeten Symphonie eine klassische Sonatenhauptsatzform, ein Sonatenrondo oder gar ein gänzlich rückwärtsgewandtes konventionelles Rondo erwartet, der kommt in der Tat nicht umhin, "ein klares Hervortreten und Gliedern der Theile" (s. o.) zu vermissen. Wer jedoch einen Blick für die innovative Kraft einer Komposition hat, der wird bewundern, wie der gerade 22 Jahre alte Mendelssohn nach der schier unübertrefflichen Aufgipfelung der symphonischen Form durch Beethoven eigene, kongeniale Wege findet, um gerade im "Reformationsfinale" symphonische Satztechniken weiterzuentwickeln. Was Mendelssohns Kritiker als "scholastisch[-e Strenge]" und mangelnde "Glieder[-ung ...] der Theile" monieren, erweist sich heute als Musik gewordene confessio drei Jahrhunderte alter reformatorischer Glaubensinhalte, die durch die Verschmelzung von Elementen dreier Epochen (barocker Fugensatz, klassischer Themendualismus mit sonatenhafter Themensegmentierung und romantischer, die Formen weitender "Freigeist") in der Tat zuvor unbekanntes "symphonisches Terrain" betritt:

Nach der romantisch dynamisierten und harmonisierten Vorstellung des Chorals (Takte 1-25) folgt eine 38taktige überleitung, in der die Klarinetten und Oboen über den vor Energie förmlich "überschäumenden" Streicherfiguren die acht ersten Choraltöne in bester klassischer Sonatenmanier engführen und segmentieren. Klassisch ist auch der Themendualismus der Exposition (Takte 63-163), wobei die überleitung zwischen den beiden Themen formal auf den Barock zurückgreift, inhaltlich aber alles andere als archaisch-"scholastisch" ist, weil das Thema der kurzen Fuge (eine Paraphrasierung der ersten Choralzeile mit einem abschließenden, charakteristischen Septsprung) klassisch segmentiert und somit zu einer "Sonatenfughette" verarbeitet wird. Wer in der kurzen Durchführung (Takte 163-198) eine der klassischen Sonatenhauptsatzform konforme Synthese und motivische Segmentierung der beiden Hauptthemen erwartet, sieht sich abermals von dem "romantischen Freigeist" (s. o.) Mendelssohns getäuscht. Die Choralzeilen III bis VI werden - variantenreich durch die Streicher harmonisiert - wechselweise von den Fagotti und Klarinetten aneinandergereiht, so dass zunächst gar keine "schulmäßige" Durchführung entsteht. (Wiederum zielt der Vorwurf des angeblich "zu Scholastisch[-en]" ins Leere!) Erst mit dem Erreichen der Choralzeile VII schließt die Durchführung ihrem tradierten Charakter gemäß mit Engführungen und motivischen Segmentierungen (Takte 183-198). Die Reprise (Takte 199-326) birgt neue überraschungen, indem sie die Entfaltung des 1. Themas im Vergleich zur Exposition von 30 auf ganze 8 Takte verknappt, dafür aber der überleitenden "Sonatenfughette" durch mächtige Holz- und Blech-bläserunisoni der Choralzeilen I und II umso mehr Gewicht verleiht. Auch das 2. Thema wird von 43 auf 18 Takte reduziert, um einer breit angelegten Coda Platz zu machen, die wie eine mächtige musikalische "Staumauer" nicht zuletzt durch das Stringendo der Takte 294-305 eine immense kinetische Energie bündelt, bis sich schließlich in den letzten 21 Takten der von anderen Themen und Motiven weitgehend losgelöste Choral endgültig seine Bahn bricht und als struktureller Gegenpol der Takte 1-25 das symphonische Geschehen symmetrisch abrundet.

Mendelssohns Kantate über den 115. Psalm (op. 31)

Mendelssohns Kantate über ausgewählte Verse des 115. Psalms entstand in den sechs Jahren von 1829 bis 1835. Tief beeindruckt von Georg Friedrich Händels "Dixit Dominus", einer Vertonung des Psalms 109 für Soli, fünfstimmigen Chor und Orchester aus dem Jahr 1707, fertigte Mendelssohn in den Monaten Oktober und November 1829 während seiner ersten Reise nach England eine Abschrift von Händels Partitur an und ließ sich offensichtlich von seinem großen barocken Vorgänger inspirieren: Wie Händel beginnt auch Mendelssohn in g-moll und fügt Fugati sowie ein markantes choraleskes Motiv in den Kopfsatz ein. Neben diesen Details sind es die weiträumige Klarheit der Themen (die sich oft schon nach einmaligem Hören als "Ohrwurm" im Bewusstsein des Rezipienten verfestigen) sowie die konzertante Leichtigkeit der polyphon gearbeiteten Abschnitte, welche die Kopfsätze der beiden Psalmvertonungen als Charakteristika der Tonsprache miteinander verbinden.

Besonders sinnenfällig ist die Thematik im 2. Satz, einem Duett für Sopran und Tenor mit Chor. Die stringente melodische Aufwärtsbewegung bei der Vertonung der Worte "Israel [bzw. Aaron bzw. alles Volk] hofft auf dich" erinnert an den 121. Psalm, der plastisch konkretisiert, wie gläubige Menschen auf Gott hoffen: "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt." Jeder Themeneinsatz mutet an wie ein Erheben des Blicks in Regionen, die eine andere, hoffnungsvollere Perspektive ermöglichen. Das allmähliche Aufschauen der hoffenden Gläubigen wird beantwortet durch göttliche Hilfe und Errettung: "[...] denn du bist ihr Helfer, ihr Erretter bist du allein." Hier setzt Mendelssohn an die Stelle der aufwärts gerichteten Sekundmelodik einen markanten, durch Wiederholung unterstrichenen Quartsprung aufwärts, der die Musik gleichsam "ruckartig", mit unwiderstehlicher Macht nach oben r e i ß t und auf diese Weise einen dramatischen alttestamentlichen Rettungstopos Klang werden lässt: Die von Gott Erretteten sind wie "ein Brandscheit, das aus dem Feuer gerissen wird" (Amos 4, 11 und Sacharja 3, 2). - R. Larry Todd lässt die Frage offen, warum Mendelssohn ab Takt 75 die Melodie des Chorals "O Haupt voll Blut und Wunden" zitiert, den der Komponist im April 1829 aufgrund seiner rezeptionsgeschichtlich überaus verdienstvollen Wiederaufführung der Bachschen Matthäuspassion intensiv studiert hat (vgl. S. VII der Carus-Partitur). Eine Antwort ergibt sich möglicherweise aus der Textunterlegung des Choralzitats ("Wahrlich, der Herr gedenket unser"). Eines der intensivsten Beispiele göttlichen Gedenkens findet sich im Passionsbericht des Evangelisten Lukas. Jesus verheißt dem einen der mit ihm gekreuzigten Verbrecher, dass er noch am selben Tage "mit [... ihm, Jesus,] im Paradies sein [dürfe]", nachdem der Schächer Christum angefleht hat: "Jesus, gedenke an mich, wenn du in den Reich kommst!" (vgl. Lukas 23, 32-43) Göttliches Gedenken ist also untrennbar mit der Passion und folglich mit dem durch Mendelssohn zitierten Choral von Jesu "Haupt voll Blut und Wunden" verbunden. Gott gedenkt der Menschen, ja "liebt die Welt", indem er seinen Sohn "gibt": "Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab [...]" (Johannes 3, 16) Eine anrührendere Vertonung des stets mit Hilfe und Selbsthingabe verknüpften göttlichen Gedenkens hätte Mendelssohn kaum finden können.

Der 3. Satz der Kantate, ein Bariton-Arioso, ist mit 67 Takten der kürzeste und wegen des auf Klarinetten, Fagotti, Hörner und Streicher reduzierten Orchesters auch der klanglich zurückhaltendste Teil der Komposition. Diese Zurückhaltung ist insofern konsequent, als hier nicht mehr "alles Volk" zu Wort kommt, das noch im 2. Satz die Intimität des Duetts durch den chorischen Einsatz der Bässe und Tenöre klangmächtig geweitet hat; das sonor-"seriöse" Timbre des Baritons repräsentiert vielmehr eine exponierte Einzelfigur, den im 115. Psalm mehrfach genannten Hohenpriester Aaron. Zu dessen vornehmsten Aufgaben gehörte es, die Gläubigen zu segnen (vgl. 4. Mose 6, 22-27). Das psalmodierende Motiv es-f-as-g, das Todd und Ballan zu Recht würdigen (vgl. S. VII der Carus-Partitur), gewinnt seine rhythmisch-melodische Prägnanz vor allem aus dem Kontrast zu einer Besonderheit des Bariton-Solos, auf die Todd leider nicht eingeht. In nahezu jeder Phrase der Solopartie finden sich ganztaktige Haltetöe, die an drei Stellen sogar noch durch überbindungen verlängert werden (Takte 9 f., 25 f. und 48 f.). Aufgrund des ohnehin schon zurückhaltenden Tempos (Adagio non lento) wirken diese Töne noch länger, breiten sich schier endlos über der psalmodierenden Motivik aus und wirken wie die in Töne gegossene Statue eines Priesters, der seine Hände feierlich zur Segensspendung ausbreitet.

Mit einem gravitätischen, klangsatten A-Cappella-Chor zu 8 Stimmen eröffnet Mendelssohn den Schlussteil der Kantate und verleiht damit einer fundamentalen Aussage des Psalmisten einen besonderen Akzent: Der (sui generis wichtige und legitime) Hinweis auf Traditionen und bereits verstorbene Gemeindemitglieder entpflichtet die im Hier und Jetzt lebenden Gläubigen nicht, in ihrem persönlichen Umfeld das Evangelium mit Leben zu erfüllen und zu verbreiten, denn diese Aufgabe obliegt nicht mehr den Verstorbenen: "Die Toten werden dich [im persönlichen Umfeld ihrer Nachfahren] nicht loben, doch wir, die leben heut, loben dich, den Herrn [...]" (Takte 1-17) - Nach diesem wie ein monolithischer Block aus der Kantate herausragenden, motivisch selbstständigen Chor entfaltet sich in den letzten 63 Takten ein Chor- und Orchesterteil, der vor allem von seinen motivischen Bezügen zum Kopfsatz lebt. Dabei wird nicht - wie Todd irrtümlich meint - das "Choralthema [...] des ersten Satzes [... aufgegriffen [vgl. die Takte 63-68 und 72-77 des Kopfsatzes] ] und behutsam den Erfordernissen des Dreivierteltaktes angepaßt" (S. VII der Carus-Partitur), sondern das nach und nach zur kleinen Sexte augmentierte "Sei Ehre"-Motiv (Takte 33-35 des Kopfsatzes) sowie das Eingangsmotiv der Tenöre und Bässe (Takte 13-17 des Kopfsatzes). Das "Sei Ehre"-Motiv erscheint nach zweifacher Vorimitation durch die gedoppelten Fagotti (Takte 33 f. und 37 f.) ohne die intervallische Augmentation des Kopfsatzes sofort mit der kleinen Sexte (Takte 40 f. und 42 f.). Durch den Verzicht auf die "schärfenden" Punktierungen (vgl. die Takte 33 und 34 des Kopfsatzes) sowie durch die Temporeduktion vom "Allegro con fuoco" zum "Con moto" wirkt das Motiv im Schlussteil nicht mehr so forsch-appellativ wie im Kopfsatz, sondern eher "befriedet" und kontemplativ. In noch stärkerem Maße gilt das für die Reminiszenz des "Nicht unserm Namen"-Motivs. Wenn man die Takte 13-17 des Kopfsatzes mit den Takten 60-67 des Schlussteils vergleicht, so fällt auf, dass die Notenwerte bis auf wenige Ausnahmen verdoppelt sind. Die bereits erwähnte Temporeduktion wird also zusätzlich retardiert durch eine rhythmische Augmentation, so dass alles "zupackend" Dramatische von der Musik abfällt und einer flächigen Ruhe weicht, die den Hörer gleichsam in den Frieden Gottes einhüllt.

Mendelssohns Kantate über den Choral "Wer nur den lieben Gott lässt walten"

Wie das Finale der Reformationssymphonie beginnt auch die Kantate "Wer nur den lieben Gott lässt walten" mit der Vorstellung des themengebenden Chorals. Interessanterweise erklingt bei dieser Choral-Exposition der Text "Mein Gott, du weißt am allerbesten / Das, was mir gut und nützlich sei." Diese Verse Israel Clauders waren in dem von Mendelssohn verwendeten Gesangbuch auf die Melodie von "Wer nur den lieben Gott lässt walten" zu singen und haben den 1816 zum Protestantismus konvertierten Komponisten offenbar so fasziniert, dass er sie an den Anfang seiner Kantate stellte und die Strophen 1, 4 und 7 des "eigentlichen" Chorals von Georg Neumark ("Wer nur den lieben Gott lässt walten" / "Er kennt die rechten Freudenstunden" / "Sing, bet und geh auf Gottes Wegen") für den zweiten, dritten und vierten Teil der Kantate aufhob.

Den einleitenden Choralsatz wie Thomas Christian Schmidt als "einfachen Kantionalsatz" zu bezeichnen (vgl. S. II und III der Carus-Partitur), mag noch legitim sein im Blick auf die "äußere", nur durch einige Durchgangsviertel durchzogene "punctus contra punctum"-Faktur, wirkt jedoch angesichts der feinsinnigen "inneren" Kunstfertigkeit des Satzes eher unpassend. Schmidt gesteht zwar ein, dass Mendelssohns Choral harmonisch über seine historischen Vorbilder hinausgeht und mit seinen "zahlreiche[-n] Septakkorde[-n] und verminderte[-n] Septakkorde[-n ...] eher auf die Tonsprache des 19. als auf die des 18. Jahrhunderts [verweist]" (a. a. O.: S. III; das 17. Jahrhundert mit den großartigen Kantionalsätzen von Schütz, Praetorius und anderen blendet Schmidt leider aus), aber es sind nicht nur die Sept- und verkürzten Septnonenakkorde "als solche" und die von Schmidt leider ebenfalls nicht erwähnte, sehr klangintensive Doppeldominantbehandlung (vgl. Takt 12), die Mendelssohns Choralsatz von einem "einfachen Kantionalsatz" abheben: Die Art und Weise, wie und wo diese Akkorde im den Dienst der Textausdeutung erklingen, ist das eigentlich Faszinierende an diesem Satz. Zwei Stellen seien herausgegriffen. Der dominantische Quintsextakkord des Taktes 16 leitet eine a-moll-Kadenz ein, bei der der Tenor durch eine satztechnisch sehr geschickte Stimmkreuzung mit dem Alt das Wachsen und das letztliche Einstürzen eigener "Gebäu[-de]" mit der Tonfolge a-h-c'-d'-e'-e plastisch nachzeichnet (Takte 16-18). - Ebenso wie im Schlussvers ("Und dir alleine ganz vertrau") das Personalpronomen "dir" als lyrisches Schlüsselwort durch die elativische Partikel "alleine" zusätzlich hervorgehoben wird, so erfährt auch der zur Vertonung des Pronomens "dir" verwendete verkürzte Dominantseptnonenakkord durch den Quartvorhalt im Alt und vor allem duch die angesprungene None im Tenor ein zusätzliches satztechnisches "Gewicht" (vgl. Takt 23), welches hörbar macht, wie subtil und nuancenreich Mendelssohn die Feinheiten des Textes auslotet und somit weit mehr als einen "einfachen Kantionalsatz" zu Papier bringt.

Die erste Strophe des Neumarkschen Chorals ("Wer nur den lieben Gott lässt walten") speist sich motivisch aus Jesu Gleichnis vom Hausbau, welches im 7. Kapitel des Matthäusevangeliums und im 6. Kapitel des Lukasevangeliums überliefert ist. Der nicht auf Sand, sondern auf Felsen bauende Hausherr ("Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, / Der hat auf keinen Sand gebaut.") kann sich auch in Extremsituationen auf die Stabilität seines Hauses verlassen und wird zum parabolischen Vorbild für Menschen, die Gottes Wort hören, in die Tat umsetzen und ihr Leben somit auf Gottvertrauen gründen. Dieses Grundthema des Gottvertrauens als Lebens- und Glaubensfundament inspirierte Mendelssohn im 2. Teil seiner Kantate offenbar dazu, das satzprägende Choralthema "des Basses Grundgewalt" (vgl. Goethe: Faust I, Vers 2086) anzuvertrauen. Das satztechnische Prinzip des Bass-cantus firmus war Mendelssohn als Kenner und Liebhaber des Bachschen Oeuvres nicht zuletzt aus dessen Orgelwerken vertraut (vgl. beispielsweise die großartige Fuga sopra: Magnificat [BWV 733], die die Bass-Durchführung mit Johann Pachelbelscher Vorimitation zur Vollendung führt). Mendelssohn doppelt das Pachelbelsche Prinzip der Vorimitation, indem die Geigen und Bratschen den Choral zunächst in Achteln fugieren, bevor die drei Oberstimmen des Chores die Vorimitation in Vierteln fortsetzen, bis schließlich die Kontrabässe, Violoncelli und Chorbässe den cantus firmus mit halben Noten und in geradezu stoischer Ruhe präsentieren, bei den Schlusstönen der Choralzeilen unter Beweis stellend, dass Gottvertrauen - für die Chorbässe im wahrsten Sinne des Wortes! - manchmal einen "langen Atem" braucht: Mindestens sieben Viertel lang (Takte 14-16 und 43-45), einmal jedoch auch über 33(!) Viertel steht die finalis der Zeile im Raum (Takte 70-78). Über dem Fundament der Bässe zeichnen die vokalen und instrumentalen Oberstimmen das "Wechselbad der Gefühle" nach, welches die verschiedenen, das Gottvertrauen zum Teil auf eine harte Probe stellenden Lebenssituationen mit sich bringen. Von der "zu Tode betrübten" Seufzermotivik der Takte 37-50 bis zu den in allerhöchste Höhen aufsteigenden, in der Kraft des Gottvertrauens quasi "himmelhoch jauchzenden" Geigentönen ist alles dabei (vgl. die Takte 73, 81, 87, 91 und 97; "Wer Gott, dem Allerhöchsten traut [...]" Auch die Choralmelodie erklimmt hier den Spitzenton ihres intervallischen Ambitus.) So wie der Text auf einem Gleichnis Jesu basiert, erbaut auch Mendelssohn seine Musik in ihren polaren Gegensätzen zu einem "kompositorischen Gleichnis" über "Hohes [... und] Tiefes" (Römer 8, 39) im Leben eines Christen.

Während sich im 2. Teil der Kantate somit Freud" und Leid die Waage halten, wirkt der 3. Satz - um es frei nach Luther zu sagen - wie die zur Arie gewordene "Freude eines Christenmenschen". Schon die Einleitung hinterlässt mit ihrem leichtfüßigen 3/8-Takt, mit ihrer federnden Dreiklangsmelodik und mit ihren vor Glück förmlich "in die Luft geworfenen" Sext-, Septim- und Oktavsprüngen (Takte 10 und 12) den Eindruck eines "orchestralen Freudentanzes"; und wenn dann die jubilierenden Töne der Sopransolistin die "Freudenstunden" und "viel Guts" aus Gottes Hand besingen, wird endgültig klar, dass in diesem Teil der Kantate kein Trauerschatten die heitere Grundstimmung trüben wird. So als ob Mendelssohn die "Sonnenseite" des Christseins bis zur Neige auskosten wollte, weitet er die traditionellen A-B-A-Form der Da-capo-Arie zu einer groß angelegten A-B-A-B-A-Form (vgl. die Takte 17-47 / 59-86 / 88-107 / 107-119 / 120-131; jeweils ohne Orchesterpartien) und schwelgt auf diese Weise in der kompositorischen Erfüllung der Bitte von Apostel Paulus: "Freut euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freut euch!" (Philipper 4,4)

Das Fragen nach Gottes Wegen, das Beten und das von Georg Neumark in der Schlussstrophe seines Chorals zuerst genannte Singen schaffen enge Verbindungen zwischen Gemeindemitgliedern, ja einen innerhalb der Kirche Christi über alle Grenzen der verschiedenen Denominationen hinweg, denn gerade das Singen ist ja im Gegensatz etwa zur Feier der Sakramente ein konfessionsübergreifendes "christliches Bindeglied". Vor diesem Hintergrund ist es eine bemerkenswerte Geste Mendelssohns, dass er den Vers "Sing, bet und geh auf Gottes Wegen" zusammen mit seinen Schwesterversen dem Unisono des gesamten Chores anvertraut. Der Chorsatz wirkt deshalb wie ein mächtiger Gemeindegesang, in den alle rite getauften und somit gemeinsam die Kirche Christi bildenden Menschen einstimmen können. Der Orchestersatz strotzt vor Vitalität, was vor allem daran liegt, dass das auftaktige Achtel-Viertel-Motiv (Takt 1, Geigen und Bässe), das auftaktige 2-Sechzehntel-Viertel-Motiv (Takt 1, Bratsche) und das auftaktige 4-Achtel-2-Sechzehntel-Motiv (imitatorisch ab Takt 5) das musikalische Geschehen gleich einem perpetuum mobile durchziehen, so dass die vierstimmige "Gemeindegesangbegleitung" wie die "vier himmlischen [, die Heiligkeit Gottes rühmenden] Gestalten [...] keine Ruhe [hat]" (vgl. Offenbarung 4, 6 und 8). Der vierhebige Jambus der Strophen Neumarks (Jambus = "der Springer"!) ist schon auf metrisch-prosodischer Ebene auftaktig und trägt sich "springend"-rastlos immer weiter fort. Das Gleiche gilt für den Streichersatz: Jede Motivbeendung "springt hinein" in einen neuen auftaktigen Motivbeginn, und als ob Mendelssohn die vitale Kunstfertigkeit noch steigern wollte, erweist er Johann Sebastian Bach mit zwei Motivzitaten seine musikalische Reverenz: Das 4-Achtel-2-Sechzehntelmotiv ist - wie Schmidt anmerkt (a. a. O.: S. III) - Bachs Schübler-Choral "Wer nur den lieben Gott lässt walten" (BWV 647) entnommen, das 2-Sechzehntel-Viertel(bzw.Achtel)-Motiv begegnet - von Schmidt leider nicht erwähnt - in Bachs Orgelbüchlein-Choral "Wer nur den lieben Gott lässt walten" (BWV 642) und trägt mit seinem anapästischen Charakter (unbetont-unbetont-betont) maßgeblich zum unwiderstehlich vorwärtsdrängenden Gestus der Musik bei, dem sich wohl kaum ein Hörer entziehen kann.

Programm 2015:

  • Unbekannt: Der alte Gott regieret noch
  • Carsten Borkowski (* 1965): Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand
  • Horst Krüger (*1952): Ich will ihm singen Lob und Preis
  • Satz Daniel Vogt: Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott
  • Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847), Satz: Ignaz Heim (1818-1880): Lass dich nur nichts nicht dauern
  • Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847): Verleih' uns Frieden gnädiglich
  • Herrmann Ober (1926-2006): Habe deine Lust am Herrn
  • Herrmann Ober (1926-2006): Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft
  • Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847): Reformationssymphonie in d-moll 4. Satz
  • Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847): "Der 115. Psalm" (op. 31)
  • Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847): Sonntagsmorgen (op. 77,1)
  • Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847): Choralkantate "Wer nur den lieben Gott lässt walten"